Keine Fingernägel und kein Ehering
Fingernägel lackieren, einen Stift mit einer Hand halten oder mich auf meinen Ehering freuen – das sind Sachen, die ich mittlerweile nicht mehr kann, aber mal konnte.
Bei der Geburt hatte ich schöne, kleine Hände, nur ein paar Kratzer, aber sonst war alles normal. Mit der Zeit hat sich das verändert, Schritt für Schritt. Gerade als Kleinkind fasst man alles, an, erkundet es und greift nach allem, was einem in die Finger kommt.
Durch die ständigen Reize kamen immer mehr Wunden hinzu, Blasen und Verletzungen – bei meiner Haut natürlich normal. Aber das alles hat wortwörtlich Narben hinterlassen. Eben durch diese Vernarbungen ist es mit der Zeit dazu gekommen, dass meine Finger zusammen gewachsen sind. Erst krümmen sie sich leicht, dann ist es irgendwie so, dass die Finger kürzer erscheinen, ich sie nicht mehr auseinander bekomme und sie einfach ,,aneinander wachsen“. Ihr könnt einen Selbstversuch machen, wenn ihr wollt. Macht eine Faust und umwickelt sie mit Klebeband – genau so fühlt es sich an. Eigentlich kann man die Finger bewegen und man will auch, aber irgendwie sind sie gefangen.
Mit circa zwei Jahren hatte ich dann meine erste Hand-OP. Ich hatte nur noch Fäuste, konnte nichts mehr damit anfangen und war damals einfach nur traurig, nicht mehr richtig spielen zu können. Übrigens sind auch meine Fingernägel abgefallen, ebenfalls durch die ständigen Wunden und Narben. Bei der Operation wird die Haut aufgetrennt und die Finger ,,auseinandergeschnitten“. Danach hatte ich in jedem einzelnen Finger einen Draht, damit die Finger erstmal nicht wieder krumm werden, die Finger wurden dann gespreizt und die herausstehenden Drahtenden mit Gips verbunden. Es folgten viele Verbandswechsel unter Narkose. Als dann alles verheilt war, also nach ca. acht bis zehn Wochen, wurden die Drähte entfernt und ich hatte wieder Finger, die ich benutzen konnte. Ich konnte wirklich alles damit machen, hatte eine gute Feinmotorik und hab alles gelernt.
Allerdings hat der Zustand nicht sehr lange gehalten. Trotz Schienen, die ich nachts immer getragen habe und trotz des Verbandes, den ich rund um die Uhr getragen habe, sind sie wieder zusammengewachsen. Kurz vor der Einschulung stand eine erneute Operation an. Ich hatte wieder Fäuste und wollte in der Schule unbedingt richtig schreiben lernen. Und damit ich nicht mitten im Schuljahr fehlen würde, haben wir es eben vorher gemacht. Gleiche Prozedur, gleiches Ergebnis. Ich konnte nicht glücklicher sein. Ich hab in der Grundschule als eine der Ersten meinen ,,Füllerführerschein“ bekommen und war sehr stolz. Dass meine Klassenlehrerin mich in der ersten Woche fragte, ob ich das eigentlich spüren würde und dabei unsanft und ohne Vorwarnung meine Finger zerdrückte, hatte ich ihr dann auch schon wieder verziehen.
Alles hat aber auch ein Ende. In der dritten Klasse ging es schon wieder schleichend los. Irgendwann rutschte mir der Stift wieder öfter aus den Fingern, kurze Zeit später musste ich lernen, wie man mit beiden Händen schreibt. Eine ziemliche Umstellung, aber es hat ganz gut geklappt. Auch andere Sachen musste ich wieder lernen. Ich konnte die Gabel nicht mehr halten und habe mir seitdem angewöhnt, den Griff unter meinen Verband zu schieben (klappt übrigens wunderbar). Auch das Schminken mit beiden Händen habe ich gelernt. Wenn man will, lernt man einfach alles.
Natürlich konnte ich nie so schnell schreiben, wie andere und auch nicht so lange. Nach einer Seite tat es einfach zu sehr weh – ich habe ja schließlich auch beide Hände angespannt. Bei Klausuren durfte ich einen Laptop benutzen, ansonsten hätte ich es zeitlich überhaupt nicht geschafft und auch die Anstrengung wäre zu groß gewesen. Auch im Alltag brauche ich viel Hilfe. Ich bekomme keine Flaschen auf, kann kein Geld vom Boden aufheben (die Fingernägel fehlen) und meine Tischlampe mit Touch reagiert manchmal einfach nicht auf mich. Ich halte alles mit beiden Händen – das Glas, den Stift, das Handy. Aber es funktioniert, man lernt es ja.
Als 2010 das Bedürfnis nach ,,richtigen“ Fingern wieder größer wurde, habe ich mich dazu entschieden, dass ich wieder operiert haben möchte. Meine Eltern hatten Angst, wegen der Schmerzen und so weiter. Ich hatte einfach nur das Ziel vor Augen. Im April 2011 war es dann soweit und ich werde nie vergessen, wie drei meiner Freunde mich in der Pause in der Schule herausgeschickt haben, mich nach einigen Minuten wieder hereinriefen und ich sah, was sie für mich vorbereitet hatten. Kindersekt, Kuchen und Süßigkeiten. ,,Eine kleine Abschiedsparty für deine Faust!“. Ich habe mich so sehr gefreut! Wir haben besprochen, was ich dann alles wieder machen könnte. Klavier spielen, mit einer Hand schreiben, den Mittelfinger zeigen und Handschuhe tragen.
Die Operation lief gut, alles wunderbar. Übrigens habe ich wegen der OP und den darauffolgenden Verbandswechseln meinen persönlichen Rekord aufgestellt – acht Narkosen in sieben Wochen. Aber greifen konnte ich nach der OP nicht. Ich konnte kein Klavier spielen, nicht mit einer Hand schreiben, ich konnte den Mittelfinger nicht zeigen und ich konnte auch keine Handschuhe tragen. Die Finger waren steif und unbeweglich. Natürlich bekam ich Ergotherapie, aber nach drei Operationen an jeder Hand und unendlich vielen Wunden, war nicht mehr viel zu machen. Ich hatte Finger – es hat mir aber nichts gebracht. Der Vollständigkeit halber habe ich im darauffolgenden Jahr aber auch noch die andere Hand operieren lassen.
Es gab auch eine Zeit, da habe ich mir Fingernägel lackiert. Ich hatte keine, aber nach etwas Übung
konnte ich den Nagellack so auftragen, dass es wenigstens ein bisschen so aussah. Damals fand ich es richtig cool, heute sehe ich ein, wie doof das eigentlich aussah, aber ich kann darüber lachen.
Mittlerweile habe ich vier Finger schon wieder ,,verloren“, die anderen sind sehr kurz geworden. Aber es tut nicht weh. Ich habe die Tricks mittlerweile gut drauf. Trotzdem gibt es Sachen, bei denen ich Hilfe brauche.
Ob ich die Finger noch einmal operieren lassen würde? Nein. Dafür hat es mir zu wenig gebracht und man muss auch bedenken, dass die Finger nach einer weiteren Operation noch stärker vernarben und ich dann noch weniger machen kann. Außerdem waren es sehr starke Schmerzen. Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden und irgendwie finde ich es auch ganz witzig. Als ich mal mit meiner Schwester Ringe angeschaut habe und wir uns gegenseitig zeigten, welchen Ehering wir gerne einmal hätten, guckten wir uns an und mussten lachen - ,,Das wird bei dir wohl nichts!“ - aber das ist auch nicht das Wichtigste. Wichtig ist, dass ich damit klar komme.
Auf diesem Bild sieht man den Unterschied übrigens sehr gut, da war eine Hand bereits operiert, die
andere noch nicht.