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    Was wäre, wenn...?

    Früher habe ich sehr oft über die Frage nachgedacht, mittlerweile eigentlich nicht mehr: Was wäre, wenn ich gesund wäre? Mit Sicherheit wäre manches anders. Aber nicht alles. Vieles hätte ich sogar verpasst.

    Wenn ich gesund wäre, hätte ich in der Kindheit mehr erleben können, hätte nicht immer aufpassen müssen, wäre nicht wütend geworden, weil meine Finger zusammen wachsen und wäre nicht so oft angestarrt worden.

    Wenn ich gesund wäre, könnte ich im Sommer Kleider und kurze Hosen tragen – ohne Strumpfhose. Ich könnte in einen normalen Schuhladen gehen – in die Damenabteilung – und könnte mir wahllos einen Schuh in Größe 38 aussuchen. Es wäre egal, ob sie einen Absatz haben oder ob es Sommersandalen wären. Ich müsste nicht mehr in die Kinderabteilung, weil ich dann nicht Größe 31 hätte und ich wäre nicht enttäuscht darüber, dass es nur glitzernde Barbieschuhe gibt.

    Wenn ich gesund wäre, würde ich mit Sicherheit anders aussehen. Ich wäre auf jeden Fall kugelrund, weil ich so viel essen würde, ich würde im Sommer zumindest ein bisschen braun werden und könnte mir die Fingernägel lackieren, weil ich dann welche hätte.

    Wenn ich gesund wäre, wäre ich vielleicht Anästhesistin geworden, weil es eigentlich mein Traumberuf wäre, wenn ich es könnte.

    Aber wenn ich gesund wäre, hätte ich als Kleinkind vielleicht nicht gelernt, kreativ zu sein, die Sachen anders anzugehen und Tricks zu lernen, wie alles trotzdem funktioniert. Ich hätte vielleicht nicht gelernt, geduldig mit mir selbst und mit anderen zu sein. Ich hätte keine Alternativen kennengelernt. Vielleicht hätte ich mich nicht so sehr darüber gefreut, dass meine Geschwister sich Zeit nehmen und Rücksicht auf mich nehmen, um mit mir andere Sachen zu machen, statt Fangen zu spielen.

    Wenn ich gesund wäre, hätte ich vielleicht erst zu spät gelernt, dass es gar nicht so wichtig ist, ob ich eine kurze Hose tragen kann oder nicht. Ich finde trotzdem Anziehsachen, die ich mag, die vorteilhaft sind und habe Spaß an Mode. Ich hätte wahrscheinlich trotzdem etwas gefunden, das mir den Spaß genommen hätte, mal ein Kleid zu tragen, vielleicht eine Narbe am Knie, Cellulitis oder ungebräunte Haut.

    Wenn ich gesund wäre, hätte ich andere Makel an mir entdeckt, als meine rote Nase. Vielleicht wäre ich vom Aussehen her auch nur ein ganz normales Durchschnittsmädchen, und hätte nichts Besonderes an mir. Kleine Makel und Unperfektheiten machen einen Menschen für jemand anderen doch so außergewöhnlich und interessant.

    Wenn ich gesund wäre, wäre ich vielleicht nicht so sozial. Dadurch, dass ich eine Behinderung habe, bin ich wahrscheinlich toleranter anderen gegenüber. Ich hätte nicht gemerkt, was meine wahre Leidenschaft ist: Das Soziale, anderen zuzuhören, sie zu beraten, ihre Geschichten kennenzulernen. Ich freue mich unglaublich auf mein Studium und will nichts lieber machen, als in einer Beratungsstelle zu arbeiten – egal ob für Frauen und Mädchen, Flüchtlinge oder vielleicht auch in der Suchtberatung. Durch die Krankheit weiß ich, was mein Traumberuf ist und bin froh, dass es etwas ist, das ich trotz Erkrankung ausüben kann. Wahrscheinlich hätte mich der Beruf des Narkosenarztes gar nicht so sehr interessiert, weil ich nicht so oft, eventuell auch gar nicht damit in Kontakt gekommen wäre.

    Wenn ich gesund wäre, hätte ich nicht so viele Menschen kennengelernt, die ich jetzt kenne und nicht mehr missen möchte. Egal ob Begleitpersonen, Krankenschwestern, Menschen, die ich in Kliniken kennengelernt habe oder vor allem Menschen, die die gleiche Krankheit haben – Menschen, die mir wirklich ans Herz gewachsen sind. Ich würde so viele lustige Momente nicht erlebt haben.

    Natürlich wäre vieles einfacher, wenn ich gesund wäre. Aber meine Krankheit hat mir geholfen, meine Persönlichkeit zu entwickeln, sie hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Ich habe dadurch Vieles gelernt, Vieles erlebt, Vieles verstanden und Vieles gelehrt. Die Krankheit gehört zu mir.

    Die gestellte Frage kann eigentlich niemand beantworten. Niemand weiß, wie es wäre und wie ich wäre, wenn ich gesund wäre. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich zufrieden bin. Dass ich mich trotzdem wohl fühle, dass ich gelernt habe, mich selbst zu akzeptieren, dass ich Alternativen gefunden habe, dass ich Menschen um mich herum habe, die mich unterstützen. Was wäre, wenn ich gesund wäre? Ich wäre auf jeden Fall nicht ich – ein unglaublich fröhlicher Mensch.

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